PROFIL: PHRONESIS IN DER PHILOSOPHIE

 

Der Begriff Phronesis

Noch im ausgehenden Mittelalter hat man noch verschiedene Bereiche des Bewusstseins z.B. zwischen der Ratio, der Phronesis und der göttlichen Sophia unterschieden. Diese wurden als lebendige Jungfrauen gesehen, die in unterschiedlichen Beziehungen zum Himmel standen. In der frühen Neuzeit wurde die Ratio, die Fähigkeit des logischen Denkens, die Grundlage aller Wissenschaftlichkeit. Damit wurde die Phronesis und erst recht die Sophia als Möglichkeiten dem zunehmend auf die Aussenwelt sich richtende Bewusstsein entzogen. Schon einzelne Scholastiker, wie Roger Bacon, suchten in dem Experiment die Verifizierung ihres Denkens. In Bezug auf die Wahrheit verloren sie zusehends die innere Sicherheit und suchten es durch den Empirismus, nur das gelten zu lassen, was auf der Sinneswahrnehmung beruhte, zu ersetzen. Dieser setzte dann sich als Wissenschaftlichkeits-Kriterium durch und die Forderung nach Verifizierung durch das Experiment stiess das Tor auf zur Umsetzung wissenschaftlicher Ergebnisse in die Technik. Damit entstand eine Schöpfung, die ausserhalb eines Göttlichen stattfand und nur von Menschen bewerkstelligt wurde.

Warum dann zurückgreifen auf diePhronesis? Weil die Schöpfung des Menschen jetzt wie ein Bumerang auf ihn zurückkommt, weil er sich geweigert hatte, das Göttliche, das überall in der natürlichen Schöpfung wirksam tätig ist, bei seiner Schöpfung einzubeziehen. Somit wäre es ein Wiederanknüpfen. Es war Rudolf Steiner, der dieses Tor im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert für ein Bewusstsein, das die naturwissenschaftliche Entwicklung mitnimmt, aufgemacht hatte.

Um die Metamorphose der Phronesis auf eine höhere Bewusstseinsstufe zu verstehen, greifen wir im Folgenden in die Antike zurück. In der nicomachäischen Ethik Kap 3-5 unterscheidet Aristoteles zwei intellektuelle Tugenden: Sophia und Phronesis. Normalerweise wird Sophia mit Weisheit übersetzt, aber es bedeutet die Fähigkeit sich in die Ursprünge der göttlichen Schöpfung und ihre Aufgaben einzuleben. Phronesis ist die Fähigkeit sich bildhaft die Umsetzung einer zukünftigen Tat als Szenario vorzustellen. Damit können andere, vor allem sittliche Qualitäten bei der Umsetzung einbezogen bzw. berücksichtigt werden.

Phronesis als innere Bewusstseinsleistung

Phronesis ist eine umfassende innere Tätigkeit. Zusätzlich zur Möglichkeit ein bestimmtes Ziel ins Visier zu nehmen, vermag sie den ganzen Prozess zu überschauen und damit herauszuarbeiten, wie man dieses Ziel (eudaimonia) erreicht. Insofern braucht die Erzeugung der Fähigkeit zur Phronesis Zeit und Schulung. Man kann die Prinzipien des Handelns zwar erlernen, aber eine Handlung, die noch nicht verwirklicht worden ist, gezielt in die Welt hineinzuführen, verlangt Welterfahrung. Diese Thematik finden wir auch in Rudolf Steiners Philosophie der Freiheit wieder.

Friedrich Schleiermacher übersetzt die Phronesis mit dem Wort «Werd'sehen» um die innere Lebendigkeit gerecht zu werden. Im vierten Kapitel bezeichnet Aristoteles Phronesis als «seinem Wesen nach ein auf das Hervorbringen abzielendes reflektierendes Verhalten» Phronesis 'steht' also vor dem Handeln und ist deshalb vom Erkennen abzugrenzen. Im fünften Kapitel wird es als «eine mit richtigem Planen verbundene, zur Grundhaltung verfestigte Fähigkeit des Handelns» beschrieben, was im Abschnitt 12 in Zusammenhang mit dem sittlichen Verhalten gebracht wird: «So ergibt sich mit Notwendigkeit, dass die sittliche Einsicht eine mit richtigem Planen verbundene, zur Grundhaltung verfestigte Fähigkeit ist, die auf das Handeln im Bereich der Werte abzielt, die dem Menschen erreichbar sind.»1.

Man könnte den Begriff der Phronesis folgendermassen zusammenfassen: Die Phronesis wird auf der einen Seite durch den Strom des Werdens berührt und auf der anderen Seite erwägt sie sorgfältig und folgert aus den erlebten Gegebenheiten. Sie steht zwischen der ethischen Tugend und dem guten Charakter, und ist auf den Willen bzw. auf das Vorhaben zu Handeln gerichtet. Wenn sie strebend tätig wird und sich durch Übung dazu ertüchtigt, werden ihre Taten zur Glückseligkeit (was die Griechen Eudämonie nannten) führen.

Im alten Orient

Die Phronesis war schon vor Aristoteles da. Die alten orientalischen Weisen sprachen von Chakren und sie meinten bestimmte sich bewegende Zentren in der Aura, auch Lotosblumen genannt, die sie hellsehend wahrnahmen. Diese beginnen sich zu drehen, wenn ein Zusammenklingen an Fähigkeiten entsteht. So waren sie in der Lage die innere Entwicklung ihrer Schüler an der Entwicklung der Chakren zu verfolgen. Buddha antwortete auf die Frage nach der Ursache und Überwindung des Leides mit einem Kanon von bestimmten Fähigkeiten, die wir unter dem "achtgliedrigen Pfad" kennen, auch die 16 blättrige Lotosblume genannt. Was noch im alten Orient hellseherisch wahrgenommen wurde, wurde in dem antiken Griechenland in Gedanken gefasst. In Heraklit lebte noch die teils hellseherische Wahrnehmungsweise und das steht hinter der Aussage, für die er berühmt ist: Er sprach vom Fluss des Geschehens (panta rhei = alles fliesst), von dem beständigen Werden und Wandeln und in seiner Lehre zeigt er auf wie sich das menschliche Leben zwischen dem Logos Prinzip der vernunftgemässen Weltordnung und diesem ständigen Wandel spielt. Damit ist er der erste Philosoph, der auf einen dynamischen Zwischenbereich zu sprechen kommt und damit auf den menschlichen Bewusstseinsraum aufmerksam macht, der später immer mehr vom Ich erfüllt wird.

Aristoteles

Aristoteles arbeitet dieses Thema explizit aus und schreibt diesem Bewusstseinsraum gleichzeitig bewegte aber doch unterschiedliche Tätigkeiten zu. In diesem Kontext bringt er dann die Phronesis ins Spiel. Kunst und Können nennt er Techne. Wissenschaft, Episteme. Phronesis verwebt beide miteinander d.h. Weisheit (und damit meint er auch Wahrhaftigkeit) mit dem auf das Praktische gerichtete Können (techne). Sie ist umgeben von Sophia und Nous, die Weisheit oder Intelligenz. (Nikomachäische Ethik 5. Buch kap 3 – 5.) Das bedeutet, dass der Umkreis-Innenraum des Bewusstseins im Sinne des Aristoteles viel weiter ist, als wir das aus dem heutigen auf das auf den Punkt gebrachten Denken vorstellen können. Man muss sich diesen Umkreis-Innenraum ergänzt denken durch die Sophia, bzw. durch die Fähigkeit sich in die Ursprünge der göttlichen Schöpfung und ihre Aufgaben einzuleben und dann greift man weit nach 'hinten' beim vorwärtsschauen. Dieses wird von der Nous erfasst, die auch für für das Erkennen und Denken im Menschen zuständig ist.

Plato

So wird Platons Auffassung von Phronesis verständlich. Die Worte beschreiben ein inneres Tun, was Sokrates (in den Worten Platons, der Aristoteles' Lehrer war) erklärt: «Phronesis bezeichnet vielleicht die Wahrnehmung der Bewegung, des Lebens-Stromes, vielleicht nur das Berührt-Werden durch die Bewegung – auf jeden Fall hat es mit Bewegung zu tun. Wenn man in dieser Tätigkeit sorgfältig abwägt und mit Vorsicht Schlüsse zieht, wobei Überlegen und Berücksichtigen gleichgewichtig ist, so bezeichnet man das als gnome. Andererseits ist noesis eigentlich das Verlangen nach Neuem, was man dann neou-esis nennen müsste und das Wort neos impliziert, dass die Welt sich im fortwährenden Werden befindet.(...) Episteme (Wissenschaft) steht der Phronesis sehr nahe und deutet an, dass die Seele die Bewegung der Dinge folgt, sie aber weder vorwegnimmt noch hinterherhinkt – deswegen sollte man lieber von epistemene sprechen. Verstehen (sunesis) wird man, wenn man eine Folgerung ableiten kann. Würde man zwei Buchstaben verändern, so würde sunienai daraus, was zusammengehen heisst und wie bei epitasthei (Wissen) kommt man dann zum Werd'sehen. Es sagt aus, dass die Seele sehend dem Werden der Dinge verfolgt. Sophia ist sehr dunkel und ist das ziel der inneren Entwicklung und bedeutet, dass man die Bewegung oder den Strom des Werdens berührt (...)» 2

Phronesis bei Alanus ab Insulis.

Plato beschreibt den gleichen Umkreis-Innenraum wie Aristoteles nach ihm. Im Mittelalter greift Alanus ab Insulis auf Plato zurück und versetzt das Geschehen in die Alegorie. Er beschreibt die Bewusstseinstätigkeiten als handelnde Personen um das Lebendige zu verdeutlichen werden. Es liegt an dem Menschen die septem artes, (die sieben freien Künste) beherrschen zu lernen, d.h. mit ihnen umgehen können. Erst wenn man seine Fähigkeiten an allen septem artes geschult hatte, wurde man als reif für die Weisheit betrachtet. Die Orte in denen dies gepflegt wurde, nannte man die Artisten Fakultät, heute würde man vom philosophischen Institut sprechen.

Diese Art seelische Geschehnisse in der Form von Allegorien bzw. Metaphern auszudrücken, kennen wir bei den Märchen. Alanus, der in einer Zeit des Übergangs von dem alten Bewusstsein zum neuen, sich an der Sinneswahrnehmung orientierende, lebte, beschreibt in seinem Anticlaudian, wie der neue Mensch geschaffen werden sollte. Die Klugheit wird von der Natura zu Gott gesandt um von ihm den neuen Menschen zu erbitten. Sie bekommt von den sieben freien Künsten einen Wagen zur Verfügung gestellt, bei dem die fünf Sinne die Pferde sind und mit der Vernunft oder Klugheit (ratio) als Wagenlenker. Die Ratio kommt an die Grenze des Firmaments. Dort kommt ihr die Theologia entgegen und dann vermag die zur Phronesis gewordene Klugheit das Empyreum, die Chöre der Engel, die Heiligen, die Jungfrau Maria und die Dreifaltigkeit zu erleben. Aber das überwältigt die Phronesis und sie wird ohnmächtig. Erst als die Fides (der Glaube) sie erweckt, geht sie durch die nächste Metamorphose und wird zur Sophia. Als Sophia vermag sie vor die dreifache Sonne der Gottheit zu treten. Gott übergibt ihr die Seele des neuen Menschen und die Klugheit kehrt durch alle Sphären zum Haus der Natura zurück.

Der Leib des neuen Menschen wird von der Natura mit den reinsten Elementen geformt, die Tugenden beschenken ihn mit Gaben, aber in den dunklen Bereichen, in einem unterirdischen Konzil, verschwören sich die Mächte des Bösen gegen den himmlischen Menschen. Die Tugenden rüsten ihn für den Kampf, der von den Lastern unter Leitung der Zwietracht eröffnet wird. Der neue Mensch besteht diesen Kampf, als Führer der Tugenden gegen die Laster, und sein Sieg bringt der Erde eine neue Jugend.

Die Rolle, die die Theologia als Empfängerin der Ratio spielt und sie dadurch zur Phronesis macht, weist hin auf die ethische Beziehung. Wilhelm Rath sagt dazu: Solange sie sich auf ihrer Himmelsreise noch in den Sphären des sicht-baren Kosmos befindet, ist Ratio, die menschliche Vernunft, ihre Führerin. Sobald sie aber das »Empyräum«, die Welten der himmlischen Hierarchien betritt, wird sie zur Phronesis, zum besonnenen, inspirierten Erkennen durch die Kraft des Herzens. Nur das Gehör begleitet sie hier und trägt sie wie ein treues Reittier durch diese Sphären. Die Theologia wird ihr hier zur Führerin.» 3

«Aber auch das Wort Theologie hat inzwischen seine Bedeutung gewandelt. Bei Alanus hat sie noch durchaus den Charakter jener »mystischen Wissenschaft« des Dionysius Areopagita der von einem geistigen Pfade spricht, der die Seele durch die »Katharsis« zur »Erleuchtung« und schließlich zur »Vollendung« führt. Die Theologie des Alanus (Regulae Theologiae) besteht aus Meditationen, Leitsätzen für die Kontemplation, welche die Seele zur Schauung des Göttlichen erheben sollen, indem sie diese an die Grenze der Verstandes-Erkenntnis führen.» (Rath S.45)

Der Kreis schliesst sich

Heute brauchen wir ein Bewusstsein, das in der Lage ist wieder an den göttlichen Umkreis anzuknüpfen. Wir brauchen eine Intelligenz, die sein Horizont erweitert und das Übersinnliche in der Tatengestaltung einzubeziehen vermag, damit er die Wege entdeckt,die heilend wirken, wenn die Schöpfung des Menschen krankmachend auf ihn zurückwirkt.

1Aristoteles. Nichomachäische Ethik Buch 5 Kap 3 – 5. Übersetzung siehe www.uni-jena.de/ms/seminar/thesen160699/ringmayer-sandra.html.

2 Platon Kratylos. 411 – 412c. Wenn man in Schleiermachers Übersetzung die Quelle nachliest (Platon Kratylos. 411 – 412c) dann wirkt sie unklar. Deshalb habe ich diese Stelle verwoben mit einer ins Deutsche übersetzten englischen Übersetzung von Benjamin Jowett. http://ancienthistory.about.com/library/bl/bl/_text_plato_cratylus.htm hinzugezogen.

3 Zum Anticlaudian siehe Alanus ab Insulis. Der Anticlaudian oder die Bücher von der himmlischen Erschaffung des neuen Menschen. Übersetzt aus dem lateinischen von Wilhelm Rath. Mellinger Stuttgart 1966.

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